Der Ingelheimer Rote im Schatten des Höllenberges
Heute ist Ingelheim berühmt für die hervorragende Qualität seines Rotweins. Doch das war nicht immer so. Lange Zeit standen Ingelheim und Rheinhessen im Schatten der Weinlagen des Rheingaus. Es war die Zeit des Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe, als Reiseschriftsteller die Rheinromantik als Verkaufsschlager entdeckten und ihrer Leserschaft besonders herausragende Weinorte ans Herz legten. Ingelheim gehörte nicht dazu - ganz im Gegenteil: Johann Isaak von Gerning (1767-1836) zum Beispiel, ein Bekannter Goethes, erklärte in seinem Band „Die Rheingegenden von Mainz bis Cölln“ von 1819 das rechte Rheinufer zum klaren Punktsieger in Sachen roter Tropfen: „Auf den Ingelheimer Hügeln wächst viel rother Wein, der aber dem Assmannshäuser an Feuer und Güte nicht gleich kommt und erst im Jahr 1730 angepflanzt worden ist.“
Mit diesem einen Satz legte Gerning den Grundstein für zwei Vorurteile über den Ingelheimer Rotwein, die sich viele Jahrzehnte und zum Teil sogar bis in unsere Zeit hielten: 1. In Ingelheim wurden erst ab 1730 rote Rebsorten angebaut, und zwar nach Assmannshäuser Vorbild; 2. Der Rotwein vom Assmannshäuser Höllenberg ist dem Ingelheimer deutlich überlegen.
Sogar Goethe schien Gerning zu glauben, denn 1814 notierte er: „Man baute sonst hier nur weißen Wein, nachher aber, in Nachahmung und Nacheiferung von Aßmannshausen, auch roten;“ („Im Rheingau Herbsttage“). Für das Renommee der Ingelheimer Winzer wirkte es sich besonders nachteilig aus, dass offenbar schon die Reiseschriftsteller des frühen 19. Jahrhunderts fleißig voneinander abschrieben. Autoren wie Johann Andreas Demian (1770-1845) übernahmen Gernings Vorurteile fast wörtlich und festigten so die Verhältnisse zwischen linkem und rechtem Rheinufer. Auch die topografischen und geografischen Nachschlagewerke dieser Zeit wie Anton Friedrich Büschings „Neue Erdbeschreibung“ von 1779 oder der schon 1728 erschienene Band „Neu-vermehrtes Historisch- und Geographisches Allgemeines Lexicon“ von Christian Friedrich Goldschadt verzeichnen für die Hänge im heutigen Ingelheimer Gebiet keinen Anbau von Wein.
Obwohl manche der damaligen „Reiseschriftsteller“ die Region vermutlich selbst nie besuchten und ihre Texte eher auf „Hören-Sagen“ basierten, fällte so mancher ein geradezu vernichtendes Urteil: „Wenn das rechte Rheinufer von Mainz bis Rüdesheim die höchsten natürlichen Schönheiten darbietet, so ist dagegen das entgegen gesetzte linke Ufer desto öder. Die ganze Gegend von Mainz bis Bingen besteht meistens aus einer langen Ebene voll Sand und Heide, wo kein Wein wächst.“ (Friedrich Albert Klebe, „Reise auf dem Rhein“, Band 2, 1801/02).
Heute ist aufgrund intensiver Forschungstätigkeiten weitgehend klar, dass Ingelheim eine Weinanbaukultur besitzt, die spätestens in fränkischer Zeit beginnt und sich durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart nachweisen lässt. Bezüglich der Qualität des Weines änderte sich das Bild schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So empfiehlt die 16. Auflage des „Baedeker“ schon 1870 allen Rheintouristen ausdrücklich den Ingelheimer Rotwein: „Der bei Ingelheim wachsende rothe Wein wird sehr geschätzt.“ Auch 1912 erfährt der Leser, ebenfalls im Baedeker, dass Nieder- und Oberingelheim durch ihren guten Rotwein bekannt seien.
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