Eine Kindheit im Schatten der Schoah - Henriette Kretz erzählt aus ihrem Leben
Henriette Kretz, 1934 in Lemberg geboren, entstammt einer jüdischen Familie. Sie ist eine der letzten Zeitzeuginnen. Im vollbesetzten Saal des Weiterbildungszentrums Ingelheim erzählt sie aus ihrem Leben. Es ist ganz still im Saal und gebannt hört man einer Frau zu, die vieles zu berichten weiß und Schlimmes erlebt hat.
Die ersten Lebensjahre wächst sie wohlbehütet in einer Familie auf. Ihr Vater, Jude, möchte Medizin studieren, aber da es nur einer kleinen Zahl von Juden erlaubt ist zu studieren, absolviert er sein Studium in Italien und kehrt danach nach Lemberg zurück. Dort heiratet er, seine Frau ist Anwältin und ebenfalls Jüdin, um dann in Mittelpolen, Iwansika, eine Stelle als Arzt anzunehmen. „Dann beginnt die schönste Zeit meiner Kindheit“, sagt Henriette Kretz. „Ich hatte liebende Eltern, einen Hund, einen Garten, viele Bauernkinder als Freunde und ein Kindermädchen.“ Helen, eine christliche Polin, ist wie eine große Schwester zu ihr und kümmert sich um Henriette, da beide Eltern berufstätig sind.
Als sie 5 Jahre alt ist, erfährt sie, dass es Krieg ist. Ihr Vater arbeitet jetzt bei der polnischen Armee, doch als die Deutschen Polen erobern, flieht die Familie nach Lemberg. Henriette sieht brennende Städte und erlebt zum ersten Mal, dass ihre Eltern Angst haben. Sie darf als Jüdin keine Schule besuchen, ihr Vater darf nur noch jüdische Patienten behandeln. Alle Juden ab 9 Jahre müssen eine Armbinde mit dem Davidstern tragen. Sie müssen ihr Haus in Lemberg verlassen und werden gezwungen in ein jüdisches Viertel umzuziehen. Dort erlebt sie eine andere Kultur – sie versteht die Sprache nicht, die Kinder tragen andere Kleider, doch sie spricht Polnisch. Bald darauf müssen sie sich auf einem Sammelplatz einfinden, man jagt alle Juden auf die Straße. Sie müssen in einer Reihe stehen, werden von deutschen Soldaten bewacht. Als sie dann auf Lastwagen abtransportiert werden sollen, bittet ihr Vater einen ukrainischen Soldaten um Hilfe, indem er sagt, dass er Arzt sei. Die Familie kann sich verstecken. Henriette wird von ihren Eltern getrennt und lebt jetzt bei einer Frau und ihrem Sohn. Sie ist ohne Nachricht von den Eltern und darf das Haus nicht verlassen. Falls jemand zu Besuch kommt, muss sie sich hinter einem Schrank verstecken. Henriette sagt, „ich war dort nicht unglücklich, ich wurde gut behandelt und hatte zu essen.“
Bis zu dem Tag, an dem die Waffen-SS das Haus inspiziert und sie entdeckt wird. Sie wird in Sambor in ein Gefängnis gebracht und ist dort das einzige Kind.
Jetzt stockt sie in ihrer Erzählung und denkt über die Deutschen nach. „Man hat ihnen erzählt, Juden seien Untermenschen und Feinde der deutschen Nation. Sie haben es geglaubt und wollten etwas Gutes für ihr Land tun. Aber sie waren keine Ungeheuer, sie waren Menschen“. Nach kurzer Zeit darf sie das Gefängnis verlassen und wird in das jüdische Viertel gebracht, das jetzt ein Ghetto ist, mit Stacheldraht versehen und streng bewacht. Dort trifft sie ihre Eltern wieder. „Der größte Feind im Ghetto war der Hunger. Richtiger Hunger tut weh“.
Und auch jetzt hat die Familie wieder Glück. Sie werden im Kohlekeller eines Feuerwehrmannes und seiner polnischen Frau versteckt. Beengt, ohne Fenster, ohne Tageslicht, verbringt Henriette mit ihren Eltern dort den Winter. „Es war eine schwere Zeit für mich, aber meine Eltern haben mir geholfen, sie haben Geschichten erzählt.“ Als es Frühling wird, dürfen sie auf den Dachboden umziehen. „Es war wie der Eingang zum Paradies. Wir hatten Raum und Luft, ich war so glücklich.“
Doch zwei deutsche Soldaten entdecken sie auf dem Dachboden. Man erschießt die Gastfamilie, ihre Eltern werden erschossen und sie hört noch wie ihre Mutter ruft „lauf..lauf..lauf“. Es ist Sommer und Henriette, die sich so einsam fühlt wie noch nie in ihrem Leben, übernachtet hinter einer Hecke. Am nächsten Morgen erinnert sie sich an ein Waisenhaus und läuft voller Angst durch die Stadt. Im Waisenhaus berichtet sie Schwester Celina, sie darf bleiben, ihr Leben ist gerettet. Einen Monat später kommen die Russen und sie ist frei.
Als Henriette ihren Bericht schließt, knüpft sie an die Gegenwart an. „Auch jetzt müssen wir als Juden wieder Angst haben“. Und tatsächlich waren zu Beginn der Veranstaltung drei Polizisten im Raum um die Sicherheitslage zu überprüfen.
Welche Fragen bleiben? Eine Lektion müssten eigentlich alle gelernt haben – nie wieder darf es in Deutschland eine Ausgrenzung von Menschen geben. Eigentlich …..
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