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Kultur • 14. Oktober 2024

Ben Becker liest Joseph Roth: Immer am Rande des Wahnsinns

Ungewöhnlich für Besucherinnen und Besucher der kING fällt der erste Blick an diesem Abend auf einen roten Bühnenvorhang. Dann nimmt man zwei Menschen wahr, die für den Brandschutz Verantwortung tragen. Als die Lampen verdunkelt werden, ist Musik zu hören. Im Wiener Dialekt wird der Zuhörer in die Thematik des Abends eingeführt. Die Musikstücke sind emotional und wurden für Ben Becker eigens von Wolfgang Ambros in Wien aufgenommen. Sie führen in die literarische Welt von Eugen Roth. Als der Vorhang sich öffnet, fällt der Blick auf einen kleinen Holztisch – auf einem Stuhl sitzt Ben Becker und raucht. Es dürfte wohl das erste Mal gewesen sein, dass jemand in der kING eine Raucherlaubnis erhielt. Das erklärt auch die Anwesenheit des Brandschutzes. Auf dem Tisch steht ein Glas Wasser, ein Glas Wein und ein Aschenbecher. Die Szenerie im Hintergrund zeigt eine Brücke in Paris, Heimat der Obdachlosen. Eine krumme Laterne spendet spärlich Licht.

Und dann hört man die raue, eindringliche Stimme Ben Beckers. Er liest Joseph Roths Novelle „Die Legende vom heiligen Trinker“, die in Paris im Frühling 1934 spielt. Andreas, der obdachlose Trinker, ein Mann von Ehre, will über die gesamte Erzählung hinweg geliehenes Geld – 200 Francs – zurückgeben. Dies gelingt ihm nicht – eben weil er trinkt. Er ist Pariser Stadtstreicher, nächtigt unter den Brücken der Seine. Nun ereignen sich einige Wunder. Ein fremder Herr leiht ihm 200 Francs, die Andreas bei der Statue der heiligen Therese von Lisieux in der Kapelle Marie des Batignolles hinterlegen soll. Immer wieder hindert ihn das Trinken an der Rückgabe. Als es schließlich zu gelingen scheint, fällt er an der Theke um und stirbt. Der Erzähler Joseph Roth beendet die Legende mit den Worten: „Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und schönen Tod!“ Der zweite Teil des Abends führt in das Jahr 1924, in das Romanische Café in Berlin, „das Caféhaus der unbegrenzten Möglichkeiten“. Das Bühnenbild zeigt das Café der zwanziger Jahre. Und wieder raucht Ben Becker - er inhaliert förmlich – statt des Wasserglases steht jetzt neben dem Glas Wein ein Tasse Kaffee. Jetzt erfahren wir viel über die Lebensgeschichte Joseph Roths – immer am Rande des Wahnsinns. Geboren wurde er als österreichischer Jude, als Journalist war er chronisch pleite, aber immer aktiv im Nachtleben von Berlin und Wien. Als die Nationalsozialisten die Macht ergreifen, werden seine Bücher verbrannt. Er flieht schon 1933 ins Exil, wird zu einer bedeutenden Stimme der Exilliteratur, gleichzeitig ist und bleibt er immer Trinker. Joseph Roth sieht sich den politischen Katastrophen seiner Zeit schutzlos ausgeliefert – ein Thema, das Ben Becker aufgreift und in die Jetztzeit projiziert. „Gerade diese Verschmelzung von Literatur und Leben, Biographie und Fiktion, Mensch und Mythos ist es, was Ben Becker an Joseph Roth fasziniert und was er wie kein anderer mit seiner Stimme und seiner Art zu lesen auf der Bühne lebendig werden lässt“. (Patrick Wildermann, Tagesspiegel)

Am Schluss der Lesung erscheint ein Großbild des Kopfes von Joseph Roth. Ben Becker erhebt sich, dreht sich dem Portrait zu und verneigt sich vor dem Schriftsteller.

Der Abend ist mehr als eine Lesung – er ist ein Ereignis.

Unter dem tosenden Applaus der Zuhörerinnen und Zuhörer lüftet Ben Becker auch das Geheimnis des Vorhanges, er war in der Tat gestern noch nicht da, wurde auf seinen Wunsch angebracht. Eine tolle Schnellreaktion der ikUM.

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